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Wenn man den Begriff des Theaters erweitert und im Anschluss an aktuelle Theorien der Theatralität als Prozess definiert, der innerhalb und außerhalb des Theaters stattfinden kann und der sich überall dort entfaltet, wo Darstellende und Zuschauer zusammen treffen – d.h. als Wahrnehmungsmodus, der es der Perspektive oder dem Blick des Zuschauers überlässt, ob eine Situation als theatral oder nicht-theatral erscheint1, [dann handelt es sich um Theaterfilme]. (...) Vor allem Deleuze hat, im Anschluss an Bazin und besonders an den Beispielen von Ophüls, Renoir und Fellini gezeigt, dass Filme, indem sie die Spielformen der Lebenswelt und der Bühne, aktuelle und virtuelle Bilder vermischen, eine neue Theatralität bzw. Meta-Theatralität schaffen, eine spezifisch kinematographische „théâtralité“2. Paradoxerweise können Filme mehr Theater bieten als das Theater selbst, indem sie zugleich – mit dem weiterreichenden, mobilen und distanzierten Blick der Kamera und des Regisseurs – die Heterotopie, die Alterität des Theaters im Film reflektieren und dabei die Analogien und Differenzen zwischen theatralischer und filmischer Schaulust (und Redelust) aufzeigen: Die Spielformen der sichtbaren und unsichtbaren Theatralität der Gesellschaft jenseits der gewohnten Regeln und Konventionen des Theaters. (...) Durch die Heterotopie des Theaters im Film wird eine weitere Dimension geschaffen, eine surreale, imaginäre Welt des Theaters und seiner Kulissen im Film, ein Zwischenraum zwischen Theater und Film, Realität und Virtualität. (...) Die Filme [Theaterfilme] schaffen, indem sie die gegenwärtige Gesellschaft und Kultur weitgehend als Spielformen der Inszenierung, der Simulation und des Scheins darstellen – sei es in komischer, tragikomischer, grotesker oder tragischer Weise – jeweils Grenzsituationen der Konfusion und Umkehrung, die die gewohnten Oppositionen von Sein und Schein, Realität und Fiktion, Authentizität und Simulation in Frage stellen und auflösen. In dieser Konfusion erscheint das Theater selbst paradoxerweise als einzig möglicher Ort existentieller Wahrheit und Authentizität; wenn wir heute, so Ivan Nagel, „in virtuellen Wirklichkeiten, zwischen Trugbildern“ leben, so seidas Theater der Ort, die ‚Verschleierungen‘ aufzuheben: „Das Theater rüstet seine Kinder mit Weltwitz und Kunstverstand aus, damit sie in der Künstlichkeit der Scheinwelten bestehen.“3 So wäre das traditionelle Bühnentheater mit seiner eigenen Ordnung und Realität in einer Zeit zunehmender Visualisierung und Virtualisierung der Lebenswelt ein letzter Spielort, um gleichsam ex negativo Realität und Fiktion überhaupt noch unterscheiden zu können. (...) Das Theater ist, mit der Heterotopie des Theaters im Film, imstande, einen mentalen Ort der Reflexion, der ‚prise de conscience‘ [Bewusstwerdung] für den Zuschauer, jenseits der dargestellten Spielformen, Konfusionen, Verstrickungen, Konventionen und Klischees der Lebenswelt zu schaffen. Der konkrete Ort der Filme bzw. der Angelpunkt filmischer Wahrnehmung ist jeweils der Spielraum vor und hinter den Kulissen, der als solcher aber nur im Blick auf das Theater selbst, in dem Grenzbereich der Bühne, den Abgründen und Konfusionen der Rollenspiele des Theaters und der Lebenswelt durchschaubar wird. (...) Es ist kein Zufall, dass die genannten Filme mit Vorliebe auf ein Theaterrepertoire zurückgreifen, das besonders in den romanischen Ländern eine lange Tradition hat und vom Barocktheater, der Commedia dell’arte, der Farce und Sainete, den Vaudeville, den Komödien und Melodramen des 18. und 19. Jahrhunderts bis zu den Avantgarden des 20. Jahrhunderts führt. Vor allem die barocken Elemente sind z.B. bei Almodóvar, Benigni, Oliveira und auch Breillat bemerkenswert, aber auch die Rückgriffe auf das Theater des 19. und 20. Jahrhunderts bei Chéreau, Marciano, Rivette und wiederum bei Oliveira und Almodóvar. (...) Die Analyse und Reflexion der Theatralität der Gesellschaft, ihrer Spielformen, amourösen Diskurse und Verhaltensweisen, der Strategien der Lüge, Verstellung, Hypokrisie (...) erscheinen (...) im Theater, dann auch im Roman und nicht zuletzt seit dem 20. Jahrhundert im Film. Der Film erweist sich geradezu als ein ideales Medium für eine Inszenierung moralistischer Anthropologie, „da er durch die Möglichkeiten der Reflexion und Hybridisierung der Schauspiele des Theaters und der Alltagswelt sowie durch die potentielle ‚décalage‘ [Verschiebung] der Bild- und Tonebene mit der Dichotomie von Sein und Schein spielen kann, ohne eine eindeutige Sinnfixierung auf der Seinsebene vorzunehmen.“4 So gerät der Zuschauer in die Rolle des moralistischen Beobachters, der keine Antwortenauf anthropologische Fragen erhält, aber dazu angeregt wird, jene Fragen – ganz im Sinne der bekannten, auf Montaigne bezogenen Definition der Moralistik5 „im Anblick bisher unentdeckter Tiefenschichten und Verwicklungen immer wieder neu zu stellen“6. Filme sind, wie auch das Theater, aber anders und vielleicht noch spektakulärer, in der Lage, die Wechselbeziehungen, Spannungen und Brüche zwischen den sichtbaren und unsichtbaren Rollenspielen zur Darstellung zu bringen, die Diskrepanzen zwischen Sein und Schein, Worten, Bildern und Gedanken, und damit die alltäglichen Formen, Rituale und Konventionen der Lüge, Maskerade, der Hypokrisie und Täuschungen bis hin zu den subtilen und grotesken Formen der Selbsttäuschung, der von Sartre sogenannten ‚mauvaise foi‘ [Unaufrichtigkeit]. Vor allem aber können Filme als das privilegierte und beweglichste Medium der Schaulust die Wechselbeziehungen zwischen dem kollektiven und subjektiven Imaginären darstellen, der Welt des Begehrens, der Träume, Tagträume, Wünsche, Ängste und Illusionen, das von Deleuze sogenannte „Kino in unserem Kopf“7.

1 Vgl. Fischer-Lichte, Erika, „Theatralität und Inszenierung“, in: dies./Pflug, Isabel (Hgg.): INSZENIERUNG VON AUTHENTIZITÄT, Basel 2000, S. 11-27, hier S. 19 mit Bezug auf Burns, Elisabeth: THEATRICALITY. A STUDY OF CONVENTION IN THE THEATRE AND SOCIAL LIFE, London 1972. 2 Bazin, André, „Théâtre et cinéma“, in: ders.: QU’EST-CE QUE LE CINÉMA ?, Paris 1997, S. 148. Der Essay „Théâtre et cinéma“ erschien zuerst in Esprit, juin/juillet 1957. 3 Nagel, Ivan: DIE KINDER AN DIE MACHT. MEHR VOM VERSTELLTEN LEBEN VERSTEHEN. VERSUCH EINER DEUTSCHEN THEATERGESCHICHTE DER ZUKUNFT, FAZ 06.07.1996. 4 Felten, Uta, „Ne c’est pas pour voltiger? Moralistische Blicke auf die Theatralität der Liebeskommunikation in Renoirs La Règle du jeu“, in: Michael Lommel/Vf. (Hgg.): JEAN RENOIRS THEATERFILME, München 2003; vgl. auch Felten, Uta/Vf. (Hgg.): ROHMER INTERMEDIAL, Tübingen 2001. 5 Vgl. Friedrich, Hugo: MONTAIGNE, Bern 1967, S. 168. 6 Felten, Uta 2003. 7 Vgl. Felten, Uta/Schlünder, Susanne/Winter, Scarlett (Hg.): SCHAUSPIELE DES BEGEHRENS. DAS KINO

* Prof. Dr. Volker Roloff, geboren 1940, Prof. i.R. für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Veröffentlichungen u.a. der Bücher: Alain Robbe-Grillet – SZENARIEN DER SCHAUSLUST (2011), ALTE MYTHEN UND NEUE MEDIEN (2005).