Thomas Mann beschreibt in dieser Passage aus DER ZAUBERBERG einen wesentlichen Aspekt der Zeitwahrnehmung: Wir scheinen Zeit unterschiedlich in Länge und Verlauf wahrzunehmen. Die Zeit ist nicht nur eine objektive Entität, in der wir existieren und die physikalisch messbar ist, sondern wir erleben sie und nehmen sie wahr.
Bereits Henri Bergson unterscheidet zwischen der objektiven Zeit und der erlebten/erfahrenen Zeit. Die objektive Zeit ist geprägt durch ihre Gleichförmigkeit und Linearität – sie ist somit messbar. Subjektive Zeitlichkeit nimmt man jedoch unterschiedlich und keineswegs ausschließlich im Sinne einer linearen Abfolge von Momenten wahr. Unser Zeiterleben ist geprägt durch assoziative Sprünge und Erinnerungen die sich an das Gesehene manifestieren. Diese Gedanken, welche u.a. von Lyotard, Deleuze und Derrida aus und weitergeführt wurden, können unter dem Aspekt des Zeitrelativismus angesehen werden. Es gibt nicht die Zeit, sondern eine Vielzahl von Zeiten. Unsere erfahrene und erlebte Zeit löst sich von einer linearen Kontinuität. Wir erleben Zeit in Momenten, im sinnlich erspürten Verstreichen und Stocken der Zeit.
Zeitlichkeit im Theater und im Film unterscheidet sich grundlegend: Die Theateraufführung ist durch die raum-zeitliche Einheit von Akteur und Zuschauer geprägt und erzeugt eine unmittelbare Gegenwärtigkeit von Körperpräsenzen. Im Kino hingegen ist eine raum-zeitliche Trennung vorherrschend, jedoch stellt sich auch hier eine Unmittelbarkeit zu dem Gesehenen ein. Der Film zeigt in jeder Aufnahme und Einstellung konservierte Zeit, während im Theater die gemeinsam geteilte, situative Lebenszeit einer Aufführung im Vordergrund steht. Zwei gemeinsame Zeitebenen des Theaters und der Kinos liegen jedoch auf der Hand: Die fiktionale Handlungszeit läuft innerhalb der Auf- bzw. Vorführungszeit ab. Der Umstand, dass sich die fiktionale Handlungszeit in der messbaren Zeit der Aufführungsdauer abspielt und diese bedingt, wurde lange nicht thematisiert. Ebenso wurde die innere Zeit, d.h. die subjektivierte Zeit der Wahrnehmung einer Auf-/Vorführung und ihr ästhetisches Potenzial nicht berücksichtigt. Erst seit dem 20. Jahrhundert wurde das subjektive Erleben von Zeit verstärkt fokussiert und thematisiert und in zahlreiche Regiekonzepte integriert.2
Theater als Ereignis und Prozess
Theater drückt sich simultan im Raum und in der Zeit aus. Es definiert sich durch Unmittelbarkeit, Transitorik, Präsenz und seine Ereignishaftigkeit. Diese Merkmale sind ihm stets immanent, jedoch wurde die spezifische Zeitlichkeit als ästhetisches Phänomen im Theater erst seit dem 20. Jahrhundert als eine „Verzeitlichung“ von der Zeit thematisiert und hervorgehoben.
Seit der historischen Theateravantgarde-Bewegung kam es zu einer Ausweitung des Theaterbegriffs. Das Theater sollte nicht mehr ausschließlich Handlungen aus vergangenen Jahrhunderten werktreu abbilden. Vielmehr sollte es die Alltagswirklichkeit der Menschen thematisieren. Das Theater als Ort der Unmittelbarkeit rückte das ästhetische Erleben der Aufführung mit seiner Ereignishaftigkeit in den Mittelpunkt. Es kam zu einer Verschiebung des Fokus von der bloßen mimetischen Abbildung der fiktiven Zeit im Literaturtheater hin zu einer Erfahrbarkeit der Aufführung als eine Situation zwischen Akteur und Zuschauer, in der beide Seiten aktiv teilhaben konnten. Galt zunächst implizit die aristotelische Forderung nach der Einheit von Zeit und Handlung, so wurde nun explizit das Jetzt und die absolute Gegenwärtigkeit der Körper-Präsenzen im Sinne einer unmittelbaren Erfahrung zwischen Akteur und Zuschauer in den Aufführungsmittelpunkt gestellt. Diese Forderungen wurden von den Happening- und Performance-Bewegungen seit Ende der 1950er übernommen. Das Living-Theatre und Marina Abramovics Performances oder die Klangexperimente des Komponisten John Cage zeigten die Prozesshaftigkeit in den Künsten auf. Die Zuschauer und die Akteure brachten die Materialität der Aufführung im Prozessverlauf gemeinsam hervor. Sie reagierten aufeinander und konstituierten somit zusammen das Ereignis, welche in diesem Verlauf unwiederholbar und einmalig war, mit. Im postdramatischen Theater seit Ende des 20. Jahrhunderts wird ebenfalls die gemeinsam geteilte Zeit als ästhetisches Erfahrungsmittel genutzt. Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann sieht in der Zeitästhetik des postdramatischen Gegenwartstheaters eine Entwicklung, welche die objektive Zeit / den Zeitverlauf einer Aufführung im Anschluss an die Performances seit den 1960er Jahren thematisiert und dem Zuschauer explizit erfahrbar macht.3 Durch die Einführung von audiovisuellen Medien wie Videoprojektionen und Animationen, werden auch Theaterkonventionen wie Präsenz und Unmittelbarkeit inszenatorisch hinterfragt. Regisseure wie Frank Castorf oder Robert Lepage verschränken in ihren Aufführungen medialisierte Bilder der Akteure mit der unmittelbaren, körperlichen Präsenz. Zeitebenen, welche durch die audiovisuellen Medien geprägt sind, werden mit der Aufführungssituation der geteilten Lebenszeit vermischt. Repräsentation und Präsentation, Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit und ihre daraus entstehende Zeitlichkeiten werden dadurch thematisiert und erfahrbar gemacht.
„Ah, Flashback-Humor!“4 – Über Zeit im Film
Ebenso wie im Theater wurde die ästhetische Zeiterfahrung auch im Film erst nach und nach explizit aufgegriffen und dargestellt. Nicht umsonst vergleicht Lehmann als Theatertheoretiker die Entwicklung der Zeitrepräsentation im Theater mit Gilles Deleuzes Theorie des Zeit-Bildes im Film. Während im klassischen Kino die Zeit als solche lediglich als eine Bedingung zur Repräsentation von Handlung im Bewegungs-Bild gehalten wird, stellt das Zeit-Bild die Zeitlichkeit als solche aus – als eine Ästhetik des Temporalen. Es ist eine Kritik an linearen Zeitkonzeptionen, welche Zeit an sich durch repressive Aktionsmontage vertuscht. Durch eine Aneinanderreihungsukzessiver Jetzt-Punkte wird die Zeit, welche als Spiegel sowohl in die Vergangenheit als auch in die Gegenwart reicht, negiert. Das konventionelle Erzählkino verabsolutiert also die Gegenwart und klammert somit die subjektive Zeiterfahrung des Moments und das Eindringen in die Tiefendimensionen der Zeit aus. Das Zeit-Bild impliziert eine Transzendenz der Zeit, d.h. die Zeit löst sich von der dramatischen Handlung ab und stellt sich in ihrem ontologischen Sein dar. Deleuze sieht in der Analyse der Filmgeschichte eine Tendenz vom Aktionsbild, welches eine lineare Erzählstruktur vorgibt (z.B. im klassischen Hollywood-Kino mit seinem „versteckten Schnitt“ und dem absoluten Fokus auf den Fortlauf der fiktionalen Handlungszeit) hin zum Zeitkristall (den er vermehrt im europäischen Kunstfilm findet, so z.B. bei Michelangelo Antonioni und seinen temps mort, d.h. Aufnahmen des Stillstandes vor oder nach einer Aktion). Das Zeitkristall ist eine Aufnahme, welche das Vergangene des filmisch fixierten Ereignisses mit der Gegenwärtigkeit des Seh-Aktes beim Zuschauer vereinigt. Es ergibt sich eine unteilbare Einheit zwischen dem virtuellen Bild und dem gegenwärtigen Zeiteindruck beim Zuschauer. Es sind rein optische und akustische Bilder, welche den Aktions-Zeitfluss stocken lässt. Das Zeit-Bild soll, so Kerstin Volland5, das intensive Erfahren des filmischen Moments ermöglichen und kann somit auch das Zeitbewusstsein des Zuschauers selbst schulen.
Der russische Regisseur Andrei Tarkowski, welcher u.a. durch Filme wie SOLARIS oder STALKER bekannt wurde, teilt Deleuzes Skepsis zur Fragmentierung der Zeit durch die strikte Aktions-basierte lineare Abfolge von Aufnahmen im konventionellen Film. In seinen Überlegungen zur Natur des Kinos fixiert er sich jedoch auf die abgebildete, jeweils spezifische Zeitlichkeit innerhalb der einzelnen Aufnahmen. Er lehnt die Montage der sowjetischen Filmpraxis von u.a. Sergej Eisenstein ab, da hier die Zeitbeobachtung, welche das Wesen des filmischen Bildes ist, fragmentiert und der Relation zu anderen Aufnahmen untergeordnet wird. Der Film entsteht für Tarkowski nicht am Schneidetisch, sondern das Filmbild entsteht bei der Aufnahme. Der Aufnahme ist dabei eine spezifische Zeitlichkeit immanent. Der poetische Film soll sich dem Realismus der Zeit, welcher in jeder Aufnahme archiviert wurde, unterordnen. In jeder Einstellung ist ein Zeitfluss spürbar. Tarkowski bezeichnet ihn auch als den Zeitdruck eines Bildes, d.h. die Spannung der Zeit innerhalb einer Aufnahme – der innere zeitliche Zustand. Dieser Zeitdruck beeinflusst die Montage (nicht umgekehrt). Nur die Zeitlichkeit in einer Aufnahme (die archivierte/mumifizierte Zeit durch das Abfilmen in einem Bild) und ihr immanentes Spannungsverhältnis kann über sich hinausdeuten und das Leben an sich wiedergeben. Es ist wahrhaftig und konfrontiert den Zuschauer mit seiner eigenen Perzeption und Erfahrung der Welt. Die Aufnahme ist mehr als eine bloße Abbildung eines Geschehens, sondern sie gibt einen Zeitfluss wieder, der uns affektiv ergreift. Da jede Aufnahme einen spezifischen Zeitdruck aufweist, benötigt die Montage ein hohes Maß an Geschick: Sie muss die Einstellungen unter Einbeziehung der spezifischen Zeitlichkeiten innerhalb der Aufnahmen berücksichtigen. Nur so entsteht ein Rhythmus, der sich aus dem Zeitdruck der Aufnahmen speist und nicht aus der intentionalen Montage. Schnitt und Montage bringt demnach keine neue Qualität hervor, sondern soll vielmehr die zeitliche Qualität der Aufnahmen an sich hervorheben. Die zeitliche Qualität eines Films wird durch das delikate Aneinanderfügen von Aufnahmen mit ungleichem Zeitdruck erreicht. Dies nennt Tarkowksi die „Bildhauerei der Zeit“. Ein anschauliches Beispiel für eine spezifisch eigene Zeitlichkeit innerhalb einer Aufnahme ist die Plansequenz, d.h. das Verfolgen eines Handlungsverlaufs ohne jeglichen Schnitt: Nicht nur wird in einer solchen Aufnahme der immanente Zeitfluss deutlich spürbar, sie scheint auch ein Gefühl von Authentizität der abgefilmten Zeit zu suggerieren. Der mexikanische Regisseur Alejandro G. Iñárritu sagt hierzu: „I realized (…) that we live our lives with no editing. (…) From the time we open our eyes, we live in a Steadicam form, and the only editing is when we talk about our lives or remember things.”6 Sein Film BIRDMAN besteht aus einer einzigen Plansequenz, welche drei Tage im Leben eines abgehalfterten Schauspielers (Michael Keaton) abbildet. Zeitsprünge werden durch das sichtbare Vorspulen der Handlung verbildlicht. Die Plansequenz suggeriert eine direkte Zeitwahrnehmung innerhalb einer Aufnahme. Sie impliziert eine raumzeitliche Homogenität, in der die Kamera befreit umherschweift. Ein scheinbar theatraler Raum wird erzeugt, den der Zuschauer dank der Kamera auskundschaftet. BIRDMAN oder auch Aleksandr Sokurovs RUSSIAN ARK lassen den Zeitfluss einer Aufnahme in den Mittelpunkt ihrer Filme rücken. Es wird deutlich, dass jedes Bild einen spezifischen Zeitdruck besitzt, also Zeitlichkeit, die den Rahmen einer Aufnahme zu sprengen scheint. Indem Iñárritu und Sokurov jedoch von einer Montage absehen, wird hervorgehoben, dass das Filmbild innerhalb der Aufnahme hervorgebracht wird und für immer innerhalb einer Einstellung archiviert ist.
Wahrnehmung ist ein äußerst zeit- und kontextabhängiger Prozess. Dieser Prozess wird in Film und in Theater gleichsam durch eine spezifische Zeitästhetik thematisiert und erlebbar gemacht. Film und Theater können die Herauslösung der inneren von der äußeren Zeit explizit, mit verschiedenen Mitteln darstellen. Hierin besteht das Potenzial der „Verzeitlichung vonZeit“, welche sich in Abgrenzung zur bloßen Repräsentation von fiktionaler Zeit befindet. Film und Theater sind wie lebendige Organismen, deren Bedeutung sich von der Inszenierungsintention des Regisseurs loslöst und vom Zuschauer individuell erlebt und interpretiert werden kann. Die subjektive Wahrnehmung der Zeitlichkeit stellt hierbei das wesentliche Fundament für diese Erfahrung dar.
1 Mann, Thomas: DER ZAUBERBERG, Frankfurt am Main 1954.2 Die hier zugrunde liegende Argumentationsfolge konstruiert eine Scheinkausalität der verschiedenen Entwicklungen im Theater und im Film. Diese Konstruktion wird zur Veranschaulichung einer Entwicklung in den
Künsten genutzt, welche von der Zeitrepräsentation zur Präsentation von Zeitlichkeit an sich hindeutet. Ich möchte darauf hinweisen, dass diese Argumentationsfolge
selektierend ist und bewusst Parallelität unterschiedlichster
Kontexte forciert.
3 Lehmann, Hans-Thies: POSTDRAMATISCHES THEATER, Frankfurt am
Main 2011.
4 Tyler Durden, in: FIGHT CLUB (USA 1999, David Fincher)
5 Volland, Kerstin: DER ZEITSPIELER. INSZENIERUNGEN DES TEMPORALEN
BEI BERGSON, DELEUZE UND LYNCH, Wiesbaden 2009.
6 http://variety.com/2014/film/news/alejandro-gonzalez-inarritu-birdmaninterview-
1201292156/ (Letzter Zugriff 10.09.2014).
*Oliver Franke, geboren 1990, studiert Theaterwissenschaft (Master of Arts) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sein Forschungsschwerpunkt liegt an den Schnittstellen zwischen bildenden und darstellenden Künsten, Installationen und Aufführungen im intermedialen Bereich und immersive Praktiken.