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Das Problem liegt (…) nicht im Dekor an sich, sondern in seiner Art und seiner Funktion. Wir müssen jetzt einen spezifischen Theaterbegriff klären: den des dramatischen Ortes. Theater gäbe es nicht ohne die Architektur, ob es sich um den Vorplatz der Kathedrale handelt, um die Arena von Nîmes, den Papstpalast, um die Wanderbühne auf dem Marktplatz, das Halbrund des Theaters in Vicenza, das ein delirierender Bérard geschaffen haben könnte, oder den Rokoko-Saal eines Theaters an den Boulevards. Ob Spiel oder Feier, kann das Theater sich von seinem Wesen her nicht mit der Natur vermengen, oder es riskiert, sich darin aufzulösen und seine Existenz zu verlieren. Da es sich nur auf das wechselseitige Bewußtsein der anwesenden Beteiligten gründet, muß es sich von der übrigen Welt abgrenzen als Spiel gegen die Wirklichkeit, als stillschweigendes Einverständnis gegen die Gleichgültigkeit, als Liturgie gegen die Gewöhnlichkeit des Nützlichen. Kostüm, Maske, Schminke, Sprachstil und Rampe tragen alle mehr oder weniger zu dieser Unterscheidung bei; doch ihr deutlichstes Zeichen ist die Bühne, deren Architektur sich verändert hat, die aber immer einen privilegierten Raum definiert, der sich tatsächlich oder potentiell von der Natur unterscheidet. Das Dekor existiert innerhalb dieses dramatischen Raums; es trägt lediglich mehr oder weniger dazu bei, ihn hervorzuheben, zu konkretisieren. Woraus immer es besteht, es bildet die Wände des dreiseitigen, zum Saal hin offenen Kastens, der die Bühne darstellt. Seine falschen Perspektiven, seine Fassaden, seine Wäldchen haben eine Rückseite aus Stoff, Nägeln und Holz. Jedermann weiß, daß der Schauspieler, der sich – aus Hof oder Garten – „in seine Gemächer zurückzieht“, in Wirklichkeit in seine Garderobe geht, um sich abzuschminken; die paar Quadratmeter Licht und Illusion sind von einer Maschinerie und von Kulissen umgeben, deren verborgene, aber wohlbekannte Laby­rinthe das Vergnügen des Zuschauers, der das Spiel mitspielt, in keiner Weise schmälern.


Weil es nur ein Element der Bühnenarchitektur ist, ist das Theaterdekor also ein faktisch geschlossener, begrenzter, umschriebener Ort, dessen einzige „Entdeckungen“ die unserer willigen Phantasie sind. Sein Äußeres ist nach innen, dem Publikum und der Rampe zugewandt; es existiert aufgrund sei­ner Rückseite, seiner Abwesenheit dahinter, wie das Gemälde durch seinen Rahmen existiert. Und wie das Gemälde sich kaum mit der dargestellten Landschaft verwechseln läßt und auch kein Fenster in der Wand ist, bilden die Bühne und das Dekor, in dem sich die Handlung abspielt, einen ästhetischen Mikrokosmos, der mit Gewalt ins Universum eingepflanzt ist, sich jedoch grundsätzlich von der umgebenden Natur unterscheidet.

Beim Film, der prinzipiell jede Begrenzung der Handlung verneint, ist das anders. Das Konzept des dramatischen Orts ist dem Prinzip der Leinwand nicht nur fremd, sondern steht im Widerspruch zu ihm. Die Leinwand ist nicht ein Rahmen wie der des Gemäldes, sondern eine Abdeckung, eine Maske, die nur einen Teil des Geschehens sehen läßt. Wenn eine Figur sich aus dem Blickfeld der Kamera bewegt, nehmen wir an, daß sie aus unserem Gesichtskreis verschwindet, doch an einer anderen, im Moment nicht einsehbaren Stelle des Dekors weiterexistiert, so wie sie ist. Die Leinwand hat keine Kulissen, sie könnte sie gar nicht haben, ohne die für sie spezifische Illusion zu zerstören, durch die ein Revolver oder ein Gesicht zum Mittelpunkt des Universums werden kann. Der Raum der Leinwand ist, im Gegensatz zu dem der Bühne, zentrifugal.

1. Christian Bérard (1902–1949), französischer Maler, den Louis Jouvet und Jean Cocteau mit einiger Mühe überredeten, sich auch als Bühnenbildner zu betätigen. Von ihm stammen die Bühnenbilder zu Cocteaus Stücken DIE MENSCHLICHE STIMME (1930) und DIE HÖLLENMASCHINE (1934), aber auch die Dekors zu Cocteaus Film LA BELLE ET LA BÊTE (ES WAR EINMAL/DIE SCHÖNE UND DIE BESTIE, 1946).


2. Die vollkommenste historische Illustration zu dieser Theorie der Theaterarchitektur in ihrer Beziehung zur Bühne und zum Dekor ist Palladios außergewöhnliche Teatro Olimpico in Vicenza, wo das antike, noch zum Himmel geöffnete Amphitheater zur reinen architektonischen Augentäuschung wird. Sogar der Eingang zum Saal bekräftigt bereits das Wesen seiner Architektur. 1590 im Innenhof einer alten, von der Stadt zur Verfügung gestellten Kaserne erbaut, zeigt das Teatro Olimpico nach außen nur hohe, nackte rote Backsteinmauern, das heißt eine reine Nutzarchitektur, die man als „amorph“ bezeichnen könnte, in dem Sinn, wie die Chemie zwischen dem amorphen und dem kristallinen Zustand eines Stoffes unterscheidet. Der Besucher, der das Theater wie durch ein Loch in der Felswand betritt, traut seinen Augen nicht, wenn er plötzlich in diese wunderbar gemeißelte Grotte gelangt, die das Theaterhalbrund bildet. Wie die Quarz- oder Amethyst-Blöcke, die außen gewöhnlichen Kieselsteinen ähneln, doch im Inneren aus einem aufs Zentrum ausgerichteten Geflecht reinster Kristalle bestehen, ist das Theater von Vicenza nach den Gesetzen eines ästhetischen, künstlerischen Raums konzipiert, der ausschließlich auf den Mittelpunkt ausgerichtet ist.


*André Bazin, 1918–1958, gilt als der bedeutendste französische Filmkritiker nach dem Zweiten Weltkrieg und geistiger Vater der Nouvelle Vague. Er gehörte 1951 zu den Gründern der Zeitschrift CAHIERS DU CINÉMA.